Einige kleine Geschichten

© 1998 - 2022 Wolfgang Neundorf
Stand: 20.08.2022

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Diese Geschichten haben zwar mit dem Anliegen dieser Web-Site nicht direkt etwas zu tun, aber ein wenig Abwechslung kann ja keinen großen Schaden anrichten.
oder?

Inhalt

  1. Das Zeitloch und der Kater
  2. Angst
  3. Die Insel
  4. Der Autor

 

  1. Der Elfte
  2. Erwachen
  3. Weltuntergang
  4. Am Grab

 

Das Zeitloch und der Kater

Wenn ich es recht bedenke, habe ich noch Glück gehabt. Vielleicht hätte es schlimmer kommen können. Von meinem Auto einmal abgesehen haben alle Beteiligten die seltsamen Ereignisse in den Nächten vom Freitag zum Sonnabend und vom Sonnabend zum Sonntag ohne Dauerfolgen gut überstanden, sieht man auch davon ab, daß sich mein Verhältnis zu Katzen erheblich verändert hat.

Mein Kumpel Bert hatte mich eingeladen. Und ganz ohne Alkohol geht so eine Einladung nie vonstatten. Bert meinte: „Du hast doch sowieso nichts zu tun. Und wo du wieder ‘mal glücklich geschieden bist, stirbst du eh an Langeweile.“ Das mit dem „wieder ‘mal“ hätte der sich ruhig sparen können. Sowas find’ ich taktlos. Ansonsten hatte er nicht unrecht. Also, ich hin zu meinem Kumpel Bert. Wir kennen uns schon ziemlich lange. Gleich nach der Lehre lernten wir uns kennen. Tut aber nichts zu Sache. Die Fahrt am Freitag Abend verlief ohne Komplikationen. Der Abend wurde recht gemütlich. Zwar tranken wir ein paar Gläschen Wein, in Alkoholmißbrauch artete dieses Treffen aber nicht aus. Keine alkoholischen Exzesse mehr! Das hatten wir uns geschworen. Und wir hielten uns tatsächlich d’ran. Ehrlich.

Sicherlich war es unklug mit dem Wagen nach Hause zu fahren. Aber wahrhaft betrunken war ich nicht. „Laß doch die Karre steh’n und übernachte hier.“ Der blöde Kerl hatte wahrhaftig und tatsächlich „Karre“ gesagt. Ich sah es ihm großmütig nach. Noch nicht einmal 15 Jahre alt war das gute Stück und verkehrssicher war es obendrein. Bei einem Schönheitswettbewerb hätte mein Wagen zwar kaum Chancen gehabt auf einem der ersten 10000 Plätze zu landen, was mich aber nicht weiter störte.

„Sie dich doch ‘mal im Spiegel an!“ riet ich ihm, aber Bert grinste nur dämlich. Ich hatte gute Laune und keine Lust, mit ihm zu streiten.

Vielleicht wäre mir einiges erspart geblieben, hätte ich dem Rat meines Freundes Folge geleistet. Ich hatte aber nicht. Und so fuhr ich frühmorgens - so ungefähr um drei muß es gewesen sein, oder kurz danach - in Richtung Heimat. Die Uhrzeit weiß ich nicht mehr so genau, aber spätestens viertel nach drei bin ich abgefahren. Kaum 100 Kilometer waren zurückzulegen. Keine Hürde. Normalerweise. Diese Nacht aber war alles andere als normal. Das jedoch merkte ich erst später. Es regnete kurze Zeit darauf ziemlich stark. Ich bin die Strecke schon oft gefahren. Eine reichliche Stunde benötige ich. Aber eben nur normalerweise.

Auf dieser Straße ist kaum ‘was los. Und um diese Zeit gleich gar nicht. Der Mond schien anfangs ungewöhnlich hell. Das fiel mir noch auf. Dann setzte der Regen ein. Und so fuhr ich gut gelaunt nach Hause. Ich kannte alle Dörfer auf dem Weg. Und als ich in meinem Dorf ankam, sah ich auf die Uhr. Die mußte wohl stehengeblieben sein. Kaum eine Viertelstunde war demnach vergangen. Vielleicht auch zwanzig Minuten bin ich gefahren. Mehr aber nicht. Mit der Uhr stimmte etwas nicht. Doch auch meine Uhren in der Wohnung zeigten - bis auf unbedeutende Abweichungen - die gleiche Uhrzeit an.

Wir hatten ausgemacht, daß ich Bert anrufen werde, sobald ich zu Hause bin. Das tat ich auch. Es dauerte ziemlich lange, bis der sich meldete.

„Also, ich bin zu Hause, alte Pfeife. Sag ‘mal wie spät hast Du’s eigentlich.?“

„Mann, wo hast du dich nur ‘rumgetrieben. Ist irgendwas passiert? Du hattest doch versprochen, mich sofort anzurufen. Ich telefoniere mich schon dusselig, und keine Sau geht ans Telefon. Langsam habe ich mir Sorgen gemacht. Ehrlich.“

„Was soll denn schon passiert sein? Spinnst du? Oder bist du womöglich wirklich besoffen?“

„Ich nicht. Aber wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“

„Welche ,ganze Zeit’ denn? Deine Uhren scheinen vollkommen falsch zu geh’n“

„Wenn irgendwas oder irgendwer hier nicht richtig tickt, dann bist Du’s. In welcher Ecke hast du denn gepennt und deinen Rausch ausgeschlafen? So lange und so fest kann doch kein zivilisierter Mensch schlafen.“

„Mann, es ist doch erst halb vier!“

„Schon, aber weißt du, was für ein Tag heute ist?“

„Na Freitag - Quatsch, Sonnabend früh halb vier.“

„Verarschen kann ich mich auch selber. Natürlich haben wir heute Sonntag.“

„Leck mich doch...“

Damit legte ich den Hörer auf und bereitet mich auf das Schlafengehen vor. Ich vergewisserte mich, daß meine Armbanduhr das richtige Datum anzeigte: es war Sonnabend, der 11. März. Mittlerweile drei Uhr vierzig.

Nur so aus Gewohnheit guckte ich auf meinen Funkwecker. Ich traute meinen Augen nicht. Dieses gottverdammte Ding zeigte tatsächlich den 12. März an. So betrunken war ich nun wirklich nicht. Ich war am Freitag Abend nach Ellerberg zu meinem Kumpel gefahren. Da bin ich mir wirklich sicher. Nun kann man allerdings ebenfalls davon ausgehen, daß Funkuhren einigermaßen genau gehen. Darauf sollte man sich verlassen können.

Mit einem Schlag war ich vollkommen nüchtern. Wenn Bert nicht gesponnen hat und mein Wecker das richtige Datum anzeigt, ist irgendwas faul. Aber was? Ich ging noch ‘mal ‘runter zum Auto. Warum, kann ich nicht genau sagen. Es regnete noch immer. Etwas weniger vielleicht als vorher, aber nach ein paar Minuten war ich völlig naß. - Das Auto aber nicht. Das war trocken, als hätte es keinen Tropfen abbekommen. Überall regnete es. Nur über meinem Auto herrschte Trockenheit. Kein Tropfen kam von oben. Ich berührte das Dach und war richtig erschrocken. Als ob mein heißgeliebtes Autochen stundenlang in der prallen Sonne gestanden hätte, so heiß fühlte es sich an. Von der Sonne weit und breit keine Spur. Erstens war es morgens in der Früh’, fast Nacht noch, und zweitens regnete es ziemlich heftig. Außer über meinem Auto. Ich schloß die Fahrertür auf und setzte mich erst einmal hin. Hier drinnen war es genau so „gemütlich“ wie im Sommer in der Mittagshitze. Ich ließ die Tür offen. Die Beifahrertür öffnete ich ebenfalls. Das war möglicherweise ein Fehler. Ich weiß es nicht mehr. Eventuell war es - im Gegenteil - kein Fehler. Denn irgendwas bewegte sich in der Dunkelheit. Etwas Kleines. Vielleicht eine Katze. Oder ein kleiner Hund etwa.

Es war tatsächlich eine Katze, die in das Auto sprang und es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich machte. „Miau“, sagte die Katze und sah mich auffordernd an. „Guten morgen“, sagte ich und betrachtete die nasse Katze etwas näher. „Du willst dich wohl etwas aufwärmen?“ Die Katze nickte, und ich schloß die Beifahrertür. Ich guckte mir das Tier noch einmal näher an. Das blinzelte nur und fing zu schnurren an. „Miau“, sagte der Plüschtiger, der aber momentan nicht gerade plüschig aussah, sondern so aussah, wie eine nasse Katze eben aussieht, wenn sie durch den strömenden Regen spaziert ist. Dann schaute sie erst einmal mir in die Augen und danach auf den Schlüssel in meiner linken Hand. „Was willst du denn?“ fragte ich die Katze. Die guckte nur. „Wollen wir eine Runde fahren?“ Die Katze nickte wieder. Und ich fand das völlig normal.

Inzwischen hatte es sich im Auto auf 30 Grad „abgekühlt“. Ich schloß die Tür und kurbelte das Fenster ‘runter. Dann fuhr ich los. „Und wo soll ich hinfahren, meine Liebe?“ fragte ich die Katze.

„Ich bin ein Kater“, protestierte lautstark das Tier mit etwas piepsiger aber durchdringender Stimme.

„Entschuldige, woher soll ich das denn wissen.“

„Also paß auf“, kommandierte der Kater „Erst einmal fährst du Richtung Erbsenfeld. Dann biegst du nach Kornthal ab. Und dort warten wir. Gleich am Ortseingang hältst du an.“

„Eye, eye Sir.“ Langsam kam mir das alles doch etwas seltsam und halbwegs albern vor. Sehr seltsam, muß ich gestehen. Der Kater aber schien das ziemlich normal zu finden. Ich nicht.

„Und worauf, bitteschön, sollen wir dort warten?“

„Frag’ nicht soviel, sondern mach’ nur, was ich dir sage. Wirst alles noch früh genug erfahren. Hast du nun Probleme mit der Uhrzeit oder ich etwa?“ waren die Worte meines Beifahrers, keine Widerrede duldend.

Ich guckte etwas dumm, fügte mich aber ergeben in mein Schicksal und gehorchte. Woher weiß dieser graue Teufel, welche Probleme ich mit der Zeit und mit dem Datum habe. Ich war ein wenig irritiert und wunderte mich gar sehr.

„Es zieht!“ plärrte das Tier. „Kannst du nicht das Fenster schließen?!“

Ich kam überhaupt nicht auf den Gedanken, nicht zu parieren. Tatsächlich war es schon etwas frisch geworden. Von der anfänglichen Hitze keine Spur mehr. Es regnete immer noch etwas. Nur eine halbe Stunde fuhren wir durch die Gegend. Schon hatten wir das Dorf Kornthal erreicht.

„Noch hundert Meter, und dann fährst du rechts ran.“

Ich tat, wie mir geheißen. Und öffnete zuvorkommend die Beifahrertür.

„Danke.“ Der Kater konnte sogar höflich sein. „In ungefähr zehn Minuten bin ich wieder zurück.
Brauchst keine Angst zu haben, es dauert wirklich nicht lange.“

Ich brauche also keine Angst zu haben. Ist doch beruhigend, zu wissen, daß nichts Schlimmes passieren wird. Als ob nicht - Himmel, Arsch und Wolkenbruch! - nicht schon genug Beunruhigendes geschehen war. Doch folgsam wartete ich auf meinen Kater. Und tatsächlich, nach genau zehn Minuten tauchte der wieder auf.

„Alles in Ordnung. Wir brauchen nur noch zu warten. Oder ein bißchen spazierenzufahren. Wie spät ist es genau?“ fragte er und sah mich durchdringend an.

„Fast viertel nach vier“, war meine Antwort.

„Ich will nicht wissen, wie spät es fast ist. Nach der genauen Uhrzeit habe ich gefragt.“

„Vier Uhr dreizehn.“

„Na also. Warum nicht gleich so.“

„Und worauf sollen wir jetzt warten?“ wagte ich bescheiden zu fragen.

„Na darauf, daß deine Eigenzeit wieder mit der globalen Zeit synchronisiert ist.“

„Mmh...???“ Ich guckte wahrscheinlich ziemlich dümmlich.

„Ist doch ganz einfach! Du bist in eine stinknormale singuläre Raum-Zeit-Anomalie mit selbstinduzierter Inversionssfalle geraten. Als Nebeneffekt entsteht bei sowas immer ein hochfrequentes elektromagnetisches Wellenfeld extremer Energiedichte, wie dieses, welches dein Auto aufgeheizt hat. Wie eine riesige Mikrowelle ungefähr. Hast noch Glück gehabt, daß es dich nicht unmittelbar getroffen hat. Hätte schlimm ausgehen können. Gott sei Dank kommt sowas sehr selten vor.“

„Ach so,“ beeilte ich mich zu antworten „und wie genau funktioniert das alles?“

„Das kann ich dir so auf die Schnelle nicht erklären. Ohne die notwendige mathematische Vorbildung ist das zwecklos. Da habe selbst ich noch Probleme. Jedenfalls konnte ich gerade meinen alten Lehrer konsultieren. Der kennt sich da besser aus. Theoretische Physik ist mein Fach nicht.“ war die zurückhaltende Antwort meines Gefährten. Und er fuhr fort: „Du fährst jetzt gleich nach Hause. Musst aber im Auto sitzen bleiben. Du darfst unter keinen Umständen sofort aussteigen! In Erbsenfeld läßt du mich ‘raus. Ich hab’ noch einiges zu erledigen.“

Ich hatte keine Wahl. Also machten wir uns auf den Heimweg. Im Nachbardorf ließ ich den Kater aussteigen.

„Mach’s gut. Und laß den Kopf nicht hängen. Das renkt sich wieder ein. Du wirst sehen, daß du mit dieser kleinen Störung des Raum-Zeit-Gefüges zurecht kommen wirst.“ Damit verabschiedete sich mein Begleiter artig und verschwand.

Ich saß noch einige Minuten wie der letzte Depp im Auto. Es regnete kaum noch. Irgendwo aus der Dunkelheit strahlten mich - im wahrsten Sinne des Wortes - im Licht der Scheinwerfer zwei Augen an. Dann fuhr ich los.

Nach zwanzig Minuten war ich wieder daheim. Ich stellte den Motor ab und wollte gerade aussteigen, als ich mich der letzten Worte des Katers erinnerte. Jenes „Du darfst unter keinen Umständen sofort aussteigen!“ klang mir noch in den Ohren. Ich fühlte mich ganz benommen. Richtig besoffen im Kopf. Irgendwie muß ich wohl kurz eingenickt gewesen sein. Aber nur ganz kurz. Dann sah ich auf meine Uhr. Es war - ich traute meinen Augen kaum - ‘mal gerade halb vier. Noch vor wenigen Minuten war es halb fünf gewesen. Um diese Zeit hatte sich der Kater von mir verabschiedet.

Doch, als ich genauer die Uhr betrachtete, fiel mir das Datum auf. Es war Sonntag am frühen Morgen. Dreiundzwanzig Stunden einfach waren „verschwunden“. Ich glaube, jetzt durfte ich aussteigen. In der Wohnung hatte sich nichts verändert. Als ich die Uhren verglich, stellte ich beruhigt fest, daß alle meine Zeitmesser wieder die gleich Zeit anzeigten. Ich wollte gerade meinen Kumpel anrufen, da fiel mir ein, daß ich dies bereits getan hatte.

Ich rekapitulierte meine bisherigen Erlebnisses. Nichts wollte sich zusammenreimen. Ich muß im Auto eingeschlafen sein. Und dann hatte ich übelst wirres Zeug geträumt. Die Geschichte mit dem sprechenden Kater war der eindeutige Beweis dafür, daß es ein Traum gewesen war. So unwahrscheinlich es auch klingt, ich muß einen ganzen Tag und eine ganze Nacht im Auto gesessen haben. Wenn das aber stimmte - und es gab wirklich keine andere vernünftige Erklärung -, dann kann ich Bert noch gar nicht angerufen haben. Und wenn ich jetzt - ganz unverfänglich - telefoniere, werde ich feststellen, ob ich schon einmal im Haus gewesen war oder auch nicht.

Ich rief aber nicht sofort an, sondern wollte mich erholen. Ich war recht müde. Eigentlich müßte ich mich frisch und ausgeruht fühlen, denn ich hatte ja vierundzwanzig Stunden geschlafen. Doch ich war schlicht und einfach müde. Also legte ich mich doch erst einmal ins Bett. Ich war sofort eingeschlafen. Als ich wieder erwachte, war es mittlerweile drei Uhr nachmittags. Und die Sonne schien. Und kein Regen regnete mehr vom Himmel herab. Erst als ich wieder vollends zu mit gekommen war, fielen mir meine nächtlichen Erlebnisse mit dem „Zeitloch“ und dem Kater ein.

An der Wohnungstür klingelte es. Wohl mehrmals schon. Als ich die Tür öffnete, stand Bert vor eben dieser. „Ach du Scheiße“, entfuhr es mir. „Mann, komm’ ‘rein. Das war doch wirklich nicht nötig, daß du auch noch angeritten kommst. Ist wirklich nichts passiert.“

„Bist du vielleicht doof! Ich hab’ mir schon ernsthaft Sorgen gemacht. Und außerdem, was hast du mit deinem Auto angestellt? Guck dir ‘mal die Farbe an.“

Auf diesen Besuch war ich nun wirklich nicht gefaßt. Was sollte ich Bert schon erzählen? Doch nicht etwa die Wahrheit? Wenn ich selbst nur die Wahrheit wüßte.

„Und dann dieser Anruf. Was Blöderes konnte dir wohl nicht einfallen. Wenn du schon nicht sofort telefoniert hast, dann hättest du dies auch zu einer angemesseneren Uhrzeit machen können. Immerhin hattest du einen ganzen Tag Zeit.”

Ich wußte immer noch nicht, wie ich mich verhalten sollte. Doch dann erzählte ich nur, daß ich im Auto eingeschlafen sein mußte und für vierundzwanzig Stunden „weggetreten“ war. Die Geschichte mit dem Kater, dem Zeitloch und meiner nächtlichen Fahrt über die Dörfer ließ ich vorsichtshalber aus. Nicht einmal als Traumerlebnis gab ich das zum besten.

Dann gingen wir mein Auto angucken. Wie schon bekannt, besonders schön war es sowieso nicht mehr. Aber so jämmerlich, wie es jetzt dastand, hatte ich es nicht in Erinnerung. Fast überall begann der Lack abzublättern.

„Ach du Scheiße!“ Mein Wortschatz war arg zusammengeschrumpft. So sehr mir das Auto auch leid tat, in diesem Moment reifte in mir der Entschluß, mich von meinem treuen Begleiter nun endlich doch zu trennen. Jetzt fielen mir nochmals einige Vorkommnisse in der Nacht ein. Wieso war das Auto so heiß gewesen, als hätte es stundenlang in der Sonne gestanden? Sollte ich etwa der Erklärung eines geträumten sprechenden Katers Glauben schenken? Was auch vorgefallen war, alles hatte ich mit Sicherheit nicht geträumt. Nun ja, die Geschichte mit dem Katzentier konnte ich getrost als Traumgespinst abhaken. Aber das Zeitloch und mein Auto? Ganz geheuer war das nicht. Und wenn ich mir den Tachostand ansehe, wird mir ganz schwummerig. Ich bin tatsächlich eine weitere Strecke gefahren, als ich eigentlich hätte gefahren sein können. Normalerweise. Aber normal war hier überhaupt nichts mehr.

„Wir hatten doch wirklich nicht soviel getrunken. Du warst völlig nüchtern, als du losgefahren bist. Einen solch gewaltigen Blackout kann ich mir nicht erklären. Vielleicht gehst du doch ‘mal zum Arzt.“

Ich nickte brav, hatte aber nicht vor, tatsächlich den Doktor aufzusuchen. Ich wüßte auch nicht warum. Und - kluge Ratschläge hin, kluge Ratschläge her - was sollte ich dem denn erzählen?

Langsam beruhigte sich Bert. Und einen kranken Eindruck machte ich ja wirklich nicht. Aber, wenn irgend etwas passieren sollte, sofort anrufen! Das mußte ich ihm versprechen. Da nun langsam der Gesprächsstoff auszugehen drohte, verabschiedete sich mein Kumpel.

„Bis zu nächsten Mal.“

„Mach’s gut. Ist schon alles okay. Ehrlich.“

Ganz in Ordnung war alles sicherlich nicht. Aber ich fühlte mich putzmunter. Ein ordentliches Abendessen gönnte ich mir noch. Dabei setzte ich mich vor die Glotze. Ein interessanter populärwissenschaftlicher Film über die Entstehung des Universums wurde gebracht. Von irgendeinem „Urknall“ war die Rede. Hatte schon öfter gehört davon, kannte aber keine Einzelheiten. Besonderes Interesse habe ich für diese Dinge nie gezeigt. Erschien mir alles zu weit hergeholt. Heute aber paßte ich besser auf. Nicht daß ich tatsächlich etwas begriffen hätte, aber ich machte mir so meinen Reim darauf. Ganz unverbindlich. Nein wirklich, was die sich da so ausgedacht haben, kommt mir einigermaßen abenteuerlich und absonderlich vor. Ich habe keine Ahnung davon und kann das nicht richtig einschätzen, aber daran gemessen, waren meine nächtlichen Erlebnisse - wenn sie denn wirklich Erlebnisse gewesen waren - die selbstverständlichsten und normalsten und alltäglichsten Dinge von der Welt. Mein Gott, und wenn das alles wirklich stimmen sollte - ich glaube selbstverständlich nicht daran -, also wenn das der Wahrheit entspräche, dann allerdings glaube ich auch an sprechende Katzen und so. Ehrlich.


 

Angst

Als Kind hatte ich Angst vor dunklen Ecken und vor Vogelscheuchen in der Abenddämmerung, Angst vor dem Heulen des Windes und vor Bildern, die sich mit Leben erfüllten. Es lebten viele von den toten Dingen. Die Phantasie erweckte sie zum Leben, einem Leben, vor dem man Angst haben muss. Die Angst ist unausrottbar, doch kann man mit ihr leben. Und die Angst vor der Dunkelheit ist wohl angeboren. Die Angst vor dem Unbekannten erfüllt uns alle noch. Es ist die Angst auch vor der Kraft der eig’nen Phantasie. Doch haben wir den Verstand, die Angst zu überwinden.

Das Wissen hat uns unabhängiger gemacht.
Und unangreifbarer auch.
Bisher glaubte ich das.

Was ist Leben, Was ist der Tod? Wir kennen uns und unsere Welt. Wir kennen viel. Und das, was wir wissen, lässt uns selbst im hellen Schein der Erkenntnis erschauen. Was wissen wir wirklich von uns?

Was wissen wir von alledem, das uns umgibt? Was verbirgt sich hinter dem, was wir „Seele“ nennen? - Ist die Seele ein Zustand, ein Vorgang, oder ist sie ein Ding?

Es gab Zeiten, da wusste man mehr. „Glauben“ wurde dieses Wissen genannt. Und jenes Wissen, das war unumstößlich; und keine Fragen schienen offen. Als beantwortet galten alle Fragen. Irgendwie war dies einfach. Und sinnvoll war es obendrein. Die Frucht vom Baum der Erkenntnis ist sehr verlockend. Aber schwer verdaulich ist sie leider auch.

***

Ich betrachte meine Versuchsergebnisse. Hier haben sich böse Fehler eingeschlichen. Sehr böse Fehler, wie es scheint. Ich muss von vorn beginnen. Die Messergebnisse passen nicht ins Bild. In welches Bild?

In das Bild des Wissens selbstverständlich.
Ein Forscher aber versucht doch, dieses Wissen zu erweitern!
Zu erweitern schon. Nicht zu vernichten.
Ist Leben ohne Tod denn denkbar? Ist Schöpfung denkbar ohne die Zerstörung?

Drei Monate Arbeit sind umsonst. Doch, es hilft wohl nichts. Die Kristalle verhalten sich sehr merkwürdig. Zuerst gab es Probleme mit der sauberen Reproduzierbarkeit des chemischen Prozesses, und jetzt dieses noch! Immerhin habe ich eine völlig neue Form organischer kristalliner Strukturen synthetisiert. Doch das Zeug verhält sich - verdammt noch mal - nicht so, wie man es von einer ordentlichen Substanz schon erwarten kann. Es ist mir nicht möglich, diesem Material bestimmte Eigenschaften zuzuordnen. Welche Messungen ich auch anstelle, nie sind sie mit gleichen Resultaten wiederholbar!

Das schlimmste ist, dass sogar die Massebestimmung nicht einwandfrei funktioniert. Ein Kilogramm ist ein Kilogramm! Normalerweise. Meine Substanz ist nicht normal. Ich habe bereits ein Kilogramm Material gewonnen. So ungefähr jedenfalls. Der Wert der Masse ändert sich um plus/minus zehn Prozent! Und das zum Überfluss dann auch noch völlig chaotisch!

Ich muss dem Fehler auf die Spur kommen. Aber die Waagen und Messgeräte befinden sich in einwandfreiem Zustand. Ich muss die Synthese wiederholen. Doch habe ich kein Glück. Die Synthese lässt sich nicht wieder-holen. Ich erzähle im Labor Niemanden von meinen Misserfolgen. Es inter-essiert sich auch kein Mensch dafür. Warum sollte er auch. Alle sind mit sich beschäftigt und mit ihrer Arbeit. Das beruhigt mich. Auch der „Alte“ wird mich in frühestens vier Wochen zu sich zitieren. Bis dahin werde ich schon irgendwelche Ergebnisse vorweisen können.

Doch langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun. Meine organischen Kristallstrukturen verändern sich. Völlig unerklärlich. Und langsam gewöhne ich mich an dieses Zeug. Und das genau ist es, was mir viel größere Angst noch einflößt. Früh bin ich der erste im Labor. Und ich „begrüße“ die graue Masse, die aber jeden Tag immer wieder anders ist. Und ich glaube schon vorher zu wissen, wie sie sich verändert haben wird. Ich kann das alles nicht beschreiben, weil mir die Worte und Begriffe fehlen. Ich „unterhalte“ mich mit der Substanz. Vielmehr: sie „unterhält“ sich mit mir. Sie teilt mir irgend etwas mit. Wir sind schon recht vertraut miteinander. Sie gibt mir Tips für meine weitere Arbeit. Nur über sich selbst „sagt“ sie überhaupt nichts aus.

Ich stelle die Versuche mit meiner Substanz ein. Wir sind „Partner“ geworden. Mit ihrer Hilfe habe ich eine Entdeckung gemacht, die meine Forschungsarbeit sehr positiv und sehr nachhaltig beeinflusst. „Dynamische kristalline Speicherstrukturen“ könnten für die Computertechnik große Bedeutung erlangen. Mein „Partner“ verändert seit kurzem ständig seine Konsistenz. Meist treffe ich „ihn“ als zähe Flüssigkeit an. Und diese Flüssigkeit schillert in allen Regenbogenfarben. Ich trage sie immer in einer Flasche mit mir herum. Auch zu Hause brauche ich ihre Gegenwart.

Aber irgendwie habe ich immer noch Angst. Die Flüssigkeit weiß das. Und sie weiß noch mehr, doch will sie mir nicht alles „sagen“. Und trotzdem ist sie ein Teil von mir. Und meine Angst wird größer, wenn wir getrennt sind.

Ich bin mir sicher, nicht verrückt zu sein. Ich bin mir sicher, eine wahnsinnige Entdeckung gemacht zu haben. Und ich bin mir sicher, mit keinem Menschen darüber sprechen zu können. Mittlerweile habe ich einigen Erfolg mit meiner Arbeit. Meine Dissertation macht Fortschritte. Ich bin auf wahrhaft große Dinge gestoßen...

Doch nicht ich bin es, der den Erfolg für sich verbuchen kann. Mein „Partner“ rät mir, nicht so sensibel zu sein. „Seine“ Gestalt scheint er nicht mehr ändern zu wollen. Ich solle „ihn“ aus der Flasche gießen, ließ „er“ mich neulich wissen. Mit ganz gewöhnlichem Fensterglas könnte man „ihn“ jetzt verwechseln. Eines Tages teilt „er“ mir mit, dass „er“ mit „seiner“ Versuchsserie jetzt am Ende sei. Ich habe mich sehr kooperativ verhalten. Und „er“ möchte sich nochmals für meine Hilfe bedanken. „Er“ habe sich ja schließlich revanchiert. Meine Speichersubstanz gedeihe doch prächtig.

Ich werde blass. Die Glasscheibe werfe ich zu Boden. Doch nichts geschieht. Überhaupt nichts. Keine Scherben und - keine fremden Gedanken mehr. Wieder bin ich allein.

Ich bin allein mit meiner Angst und mit dem Wissen um meine Unwissenheit. Ich habe das Gefühl, ausgelacht zu werden. Wir alle werden ausgelacht. Dabei nehmen wir uns so wichtig! Und wir bilden uns verdammt viel ein auf unser bisschen Wissen.

Irgendwie gibt es noch „etwas“ oder „irgendwen“. Nein, nicht die „kleinen grünen Männchen“ oder „die Engelein im Himmel“ oder ähnliches in der Art meine ich, sondern etwas, was ich nicht beschreiben kann, etwas, was ich nie begreifen werde. Etwas, das unsere Begriffe nie erfassen werden können . - Niemals! Beruflich kann ich mich nicht beklagen. Natürlich wird nie jemand erfahren, „wer“ mir bei meiner Karriere behilflich war. Und ich selbst erinnere mich nur ungern an die Zeit meines Verrücktseins. Ich muss ganz schön überarbeitet gewesen sein. Die Notizen von den misslungenen Versuchen sind schon längst vernichtet. Ich habe alles gut überstanden. Wenn man einmal von meiner ganz unmöglichen Angst vor Glasscherben absieht. Von einer solch abartigen Phobie allerdings habe ich noch nie gehört. Und meine seltsame Glasscheibe bewahre ich noch immer auf. Nein, sie „lebt“ nicht mehr, entzieht sich aber allen Versuchen, hinter das Geheimnis ihrer Struktur zu kommen. Sie ist unzerstörbar und lässt sich nicht erhitzen. Ich kann anstellen mit ihr, was ich will. Keine Reaktion! Dieses „physikalische und chemische Monstrum“ bewahre ich jetzt im Keller auf. In die dunkelste Ecke habe ich es verfrachtet. Ich werde es ignorieren. Ich muss es ignorieren, da es mich an der Legitimität meiner wissenschaftlichen Forschungstätigkeit zweifeln lässt. Auch alle weiteren Versuche, die ursprüngliche Substanz wieder herzustellen, scheitern.

Ich weiß, dass alles mit rechten Dingen zugeht.
Ich weiß das!

Dieses Wissen lasse ich mir nicht nehmen.
Von keinem!

Die Arbeit mit dem Festkörperspeicher ungeahnter Kapazität macht Fortschritte. Irgendwann einmal, in nicht allzu ferner Zukunft, werden langsame elektromechanische Massenspeicher geringer Kapazität der Vergangenheit angehören. Trotz aller Erfolge werde ich das dumme Gefühl nicht los, ein Almosen angenommen zu haben. Und auch die Angst vor „Gespenstern“ belastet mich sehr, viel mehr, als ich mir eingestehen will. Ich bin ein rational veranlagter Mensch. Jedenfalls war ich das. Und ich bemühe mich, es wieder zu werden. Mühe kostet Kraft. Noch habe ich die.

Doch vielleicht bin ich nur überempfindlich, denn als Kind schon hatte ich Angst vor dunklen Ecken und vor Vogelscheuchen in der Abenddämmerung, Angst vor dem Heulen des Windes und vor Bildern, die sich mit Leben erfüllten. Es lebten viele von den toten Dingen...

Aber ich bin doch kein Kind mehr!

Oder...?


 

Die Insel

05.11.2000
Eine ganz kleine Geschichte, die mit dem Thema dieser Web-Site nichts zu tun hat. - Sagen wir: Fast nichts.

Der Astronom verbringt das dritte Jahr in Abgeschiedenheit. Sein kleines privates Observatorium ist alles was zum Leben er benötigt. Die Lebensmittelvorräte lässt er monatlich ergänzen. Das ist der einzige Kontakt zur "Außenwelt".
Besessen ist er und nicht "normal" und fühlte sich wohl dabei, und nichts vermisst er. Was sonst auf der Welt geschieht, interessierte ihn nicht. Radio und Fernseher besitzt er, doch nutzt er beides nicht. Nicht eigensinnig oder verschroben ist er. Er ist nur er selbst. Kein Mensch hätte ihn verstehen können. Der Astronom verlangt es auch nicht.

Das Alleinsein tut ihm gut, auch wenn er NICHTS tut. Er tut nicht oft nichts. Aber es kommt vor und verläuft selten ergebnislos.

Eines Nachts - er sitzt am Teleskop - ertappt er sich beim Nichtstun. Er döst vor sich hin und denkt an - NICHTS. Der Bleistift fällt zu Boden, und der Astronom schreckt auf aus seiner Erstarrung. Der Bleistift inspiriert ihn auch sogleich. Mehrmals lässt er ihn zu Boden fallen. Das gleiche Ergebnis. Immer. Verwundert blickt er auf und beginnt seine Fotografien auszuwerten. Alles betrachtet er aus einem anderen Blickwinkel.

Die Programmierung des Computers nimmt lange Zeit in Anspruch. Wie lange, das hätte er nicht sagen können. Alles, was zum Leben sonst gehört, das tut er wie in Trance.

Die Auswertung beginnt. Nichts passt zusammen. Ihn wundert, dass dies noch keinem bisher aufgefallen ist. Nichts verläuft "gesetzmäßig". Nur in der gewohnten Umgebung scheint es so. Noch weiter dringt er ein in die Tiefen des Universums. Fast überfordert das Datenmaterial den Computer. Dann ist es so weit.

Nach Monaten.
Oder Jahren?

Das Ergebnis der Simulation lässt keinen Zweifel aufkommen. Erreicht ist sein Ziel, und nichts gibt es mehr zu tun für ihn. Für immer verlässt er das Observatorium und verschwindet.
Irgendwohin.

Wann und wo er starb, das wurde nie geklärt. Sein Geheimnis nahm er mit ins Grab:
Das Universum ist eine unscheinbare, einsame, unbedeutende Insel.
Eine unendlich kleine Insel im unendlich großen Meer des Chaos.


 

Der Autor

Als wirklich erfolgreicher Sachbuchautor hat er auch keine finanziellen Probleme. Hin und wieder aber lässt er sich zu irgendwelchen Vorträgen überreden, obwohl sein Gesundheitszustand nicht mehr allzu große Belastungen zulässt. Der Jüngste ist er auch nicht mehr. Die Veranstaltungen sind gut besucht und tragen einen Großteil zu seiner Popularität bei. Auch das Fernsehen interessierte sich schon mehrmals für ihn.

Besonders in einer Zeit der Renaissance von Aberglauben und Mystik nimmt er seine Aufgabe äußerst ernst. Es ist schon beängstigend, wie das Irrationale immer mehr Macht über die Menschen zu gewinnen scheint. Um so beeindruckender sind dann die Begegnungen mit Leuten, die sich von irgendwelchem Hokuspokus und den uferlosen Spekulationen und Spinnereien allzu phantasiebegabter Mitmenschen - in heutiger Zeit anscheinend immer mehr an Bedeutung gewinnend - nicht beirren lassen.

Da kann die Wissenschaft auf Erfolge zurückblicken, die jedem vernünftigen Menschen schier unermessliche Horizonte des Denkens eröffnen; und es gibt eine immer größer werdende Schar von Anhängern jeglicher Irrationalität.

Die Fortschritte der Wissenschaft dem interessierten, aber fachlich nicht versierten, Publikum nahe zu bringen, ist eine Aufgabe, die er sich seit langem gestellt hat. Dafür nimmt er, wenn es denn sein muss, einige Strapazen auf sich. Der Erfolg scheint ihm recht zu geben. Natürlich wird ihm immer mehr bewusst, dass die moderne Wissenschaft kaum noch vermittelbar ist. Das ist eines der schwerwiegenden Probleme, mit denen zu ringen zu seiner vornehmsten Aufgabe wurde.

So schwer weltanschauliche Revolutionen, und dies unter erheblichen Opfern mitunter, vor Hunderten von Jahren auch durchgesetzt werden konnten , so war der Streit gegen die kirchlichen Dogmen  beispielsweise - immer ein Streit von Glauben gegen Wissen. Heutzutage ist das Wissen aber schwerer zu handhaben. Die erforderlichen Spezialkenntnisse in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen lassen die Versuche der vereinfachten, aber möglichst korrekten, Darstellung der Zusammenhänge als ein fast aussichtsloses Unterfangen erscheinen.

Dass ihm dies - trotz aller Schwierigkeiten - sehr gut gelungen sein muss, macht einen wesentlichen Teil seines Erfolges aus. Und ein solcher Erfolg ist notwendig, um wenigstens eine kleine Wirkung zu erzielen. Doch gibt man sich keinerlei Illusionen hin. Die eigenartige Diskrepanz zwischen dem notwendigen materiellen Aufwand im Bereich der Forschung und dem tatsächlichen Erkenntnisgewinn, sowie die immer geringere Akzeptanz in weiten Bevölkerungskreisen machen ihm durchaus zu schaffen. Aber er wird kämpfen, obwohl es ihm immer schwerer fällt.

Eines der interessantesten Themen ist das der Existenz außerirdischen Lebens und extraterrestrischer Intelligenzen. Da ist er unbestrittener Spezialist. Da kennt er sich aus. Was auch immer den UFO-Enthusiasten und sonstigen Phantasten einfallen möge, einfache - und wirklich für jeden nachvollziehbare - Überlegungen beweisen eindeutig und unwiderlegbar, dass ein Kontakt mit ihnen in hohem Grade dermaßen unwahrscheinlich ist, dass man ihn durchaus als „unmöglich“ bezeichnen darf. Trotz allem haben diesbezügliche Spinnereien Hochkonjunktur! Zum Verzweifeln ist das!

Er verzweifelt nicht, und versucht die menschliche Vernunft, gar oft schon auf Abwegen angetroffen, zu erreichen und auf den rechten Weg zu lenken . Der Kampf für die Vernunft und gegen den Aberglauben und gegen das Irrationale erfüllt sein ganzes Leben. Und von der „gegnerischen Seite“ wird ihm, sogar mit gewissem Erfolg mitunter, Fanatismus und Ignoranz vorgeworfen. Doch ficht ihn solches nicht an. Die menschliche Dummheit scheint grenzenlos; und der Kampf gegen diesen übermächtigen Feind wird wohl nie ein Ende finden.

Doch heute ist er müde. Selbst die Heimfahrt macht ihm zu schaffen. Die zwei Stunden Taxifahrt sind fast schon zu viel für ihn. Spätabends kommt er heim. Er betritt sein kleines, einsam an einem Waldrand gelegenes Anwesen unweit einer unbedeutenden Kleinstadt. Sichtlich erschöpft erreicht er das Haus und kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Doch gleich hat er es geschafft! Ohne eine Pause einzulegen, begibt er sich zielstrebig in den Keller. Bereits auf dem Weg zu dem mit einer ungewöhnlich stabilen Tür versehenen Sauna entledigt er sich seiner Kleider und wirft sie achtlos auf den Boden.

Die Tür ist mit einem Zahlenschloss versehen. Nur er kennt den Code. Hastig tastet er die Ziffernkombination ein. Hoffentlich vertippt er sich nicht. Endlich befindet er sich in der Luftschleuse. Schnell entledigt er sich des menschlichen Korsetts mit dem integrierten und sehr aufwendigen, weil getarnten, mobilen Lebenserhaltungssystem und öffnet die Tür zur „Sauna“, nachdem das absolut giftige Luftgemisch mit seinem hochtoxischen und sofort tödlichen Sauerstoffgehalt durch atembares Gas ersetzt wurde. Endlich kann er, ohne lästige und beengende Technik, befreit auf- und durchatmen. Gierig saugt er das belebende Gemisch aus Schwefelwasserstoff und Stickoxiden ein. Seine Kräfte kehren schnell zurück. Und auf das erfrischende Bad in heißer Schwefelsäure hat er sich den ganzen Tag schon gefreut.

Allerdings weiß er nicht, wie lange er die Maskerade noch durchstehen kann. Länger als zehn Jahre hielt bisher niemand die absolut lebensfeindlichen Bedingungen aus. Ist ja auch idiotisch! Auf der einen Seite werden immer auffälligere, kaum noch zu verheimlichende, Versuche unternommen; und auf der anderen Seite setzt man unter anderem Leute wie ihn zu deren Vertuschung ein. Langsam sollen „die da oben“ sich etwas Neues einfallen lassen. So geht das nicht weiter! Nein, wirklich nicht!

Nur langsam beruhigt er sich. Lieblich umschmeicheln die Schwefelsäuredämpfe seine Nase.


 

Der Elfte

Dass in diesem gottverlassenen Kaff so etwas passieren musste, war ausgesprochen ärgerlich. Ein Bahnhofsrestaurant gab es nicht. Der Zug würde voraussichtlich in frühestens zwei Stunden seine Fahrt fortsetzen können. Ein Taxi zu nehmen, schied aus Kostengründen aus. Der Gleisbautrupp hatte seine Arbeit bereits aufgenommen. Immerhin ein Anfang.

Der Reisende verspürte ein starkes Hungergefühl und machte sich auf den Weg, eine Gaststätte aufzusuchen. Was die anderen Fahrgäste machten, interessierte ihn nicht. Es waren nicht viele. Seine Heimfahrt aus seinem Urlaubsort hatte er sich etwas anders vorgestellt. Schon seit Jahren fuhr er allein in „seinen“ Kurort. Er fuhr nie mit dem Wagen. Heute ärgerte er sich darüber, die Bahn benutzt zu haben.

Also machte er sich auf den Weg in die ihm nur vom Durchfahren bekannte Kleinstadt, nachdem er sich nochmals vergewissert hatte, wirklich wenigstens zwei Stunden Zeit zu haben.

Es wurde bereits dunkel, und die Straßenbeleuchtung erhellte die fast menschenleeren Straßen nur unzureichend. Nach einem kurzen Fußmarsch auf einer (oder der?) Hauptstraße des Städtchens entdeckte er eine Kneipe, die sich am Anfang einer Seitenstraße befand. Sie machte einen freundlichen Eindruck, und auch das kneipenübliche Stimmengewirr war gedämpft zu vernehmen. Diese Gaststätte schien gut besucht zu sein. Er trat ein und entdeckte einen einzigen leeren Tisch, an dem er sogleich platz nahm. Alle anderen Tische waren besetzt. Fremde verirrten sich wohl selten dorthin. Nachdem er sich ein Bier und ein Abendessen bestellt hatte, sah er sich ausgiebig im Restaurant um, ohne sich von einigen neugierigen Blicken - er war ja selbst ein wenig neugierig - irritieren zu lassen. Die Tische waren mit drei oder vier sich lautstark unterhaltenden Personen besetzt . Nichts besonderes konnte er entdecken. Was sollte man in einer Eckkneipe in einer Kleinstadt auch „Besonderes“ erwarten. Man kannte sich und war mit dem Wirt per du. Und dennoch hatte der Reisende das Gefühl, nicht der einzige „Außenseiter“ zu sein. Am Nachbartisch saß ebenfalls eine einzelne Person, mit dem Rücken zu ihm gekehrt. Es musste ein älterer Herr sein, der sich schon geraume Zeit an einem Bier „festhielt“, welches doch endlich geleert sein musste. Der Wirt brachte unaufgefordert ein neues. Auch ohne dass zwischen beiden ein Wort gewechselt wurde, konnte sich der Urlauber des Eindruckes nicht erwehren, dass der Alte wahrscheinlich doch kein Fremder war. Er gehörte dorthin, auf andere Weise, als die Anderen. Was nur machte „das Andere“ aus?

Was eigentlich gehen ihn die Leute an! Übermorgen beginnt wieder der Alltag, der routinebehaftete Alltag eines Ingenieurs in einem kleinen Betrieb. Als er sein Essen bekam, vergaß er seine Umgebung und auch den Herrn am Nachbartisch.

„Zahlen bitte“, dies war der zweite Satz, den er sprach. Das Essen war reichlich, schmackhaft und recht preiswert. Zufrieden bezahlte er seine Zeche . Jetzt erst registrierte er, dass sein Nachbartisch leer war. Der Wirt bemerkte den erstaunten Blick des Gastes und erklärte, als sei es völlig normal, Fremden erklären zu müssen, was es mit dem älteren Herrn auf sich habe. „Ja, der Professor geht immer um diese Zeit. Er kommt fast jeden Abend. Vielleicht kennen Sie ihn. Es ist schon lange her... Er war sehr berühmt.“ Hiermit ließ er es bewenden und widmete sich seinen Stammgästen.

„Vier Bier, vier Doppelte...“

Der Reisende hatte ohnehin keine Lust, sich zu unterhalten. Seine Ruhe wollte er haben. Und seinen Gedanken nachhängen wollte er. Eine Stunde Zeit blieb ihm noch. Und seine Ruhe hatte er in dieser Gaststätte - zumindest solange er allein am Tisch saß. Er wollte kein Risiko eingehen. Deshalb beschloss er, sich zurück zum Bahnhof zu begeben. Als er von der Toilette zurückkam, verließ er das Lokal.

Er betrat die, jetzt nur von der spärlichen Beleuchtung notdürftig erhellte, Straße. Es wurde bereits zeitig dunkel. An nichts bestimmtes denkend erschrak er, als er plötzlich eine Gestalt erblickte. Es war der Alte vom Nachbartisch, der auf jemanden zu warten schien. Jetzt schaute der Reisende in ein Gesicht, das auf dem zweiten Blick so alt zu sein nicht schien. Kaum über sechzig Jahre musste der Professor wohl zählen, welcher ihn gelassen anblickte, leicht spöttisch vielleicht, aber keineswegs unfreundlich.

„Ich habe auf Sie gewartet“. Der Reisende blieb stehen und sah sein Gegenüber erstaunt an, überhaupt keiner sinnvollen Reaktion fähig.

„Vielleicht kennen Sie mich. Erinnern Sie sich an die Expedition vor zwanzig Jahren?“

Jetzt fiel der Groschen. Ja, vor zwanzig Jahren... Er begann gerade sein Studium... Es war das spektakulärste Ereignis, das es je gegeben hatte. Es gab nur einen Überlebenden. Und dieser stand jetzt vor ihm.

Wie kam er eigentlich dazu, sich von einem Fremden ansprechen zu lassen, ohne Grund. Wieso hatte dieser auf ihn gewartet? Der Reisende wollte schon weitergehen.

„Natürlich ist das ungewöhnlich, was ich mache. Hören Sie mir nur einige Minuten zu. Dann können Sie gehen - wenn Sie dann noch wollen. Ihren Zug verpassen Sie nicht.“

Langsam begann dem Fremden die Begegnung unheimlich zu werden. Er stand wie festgenagelt, immer noch nicht in der Verfassung, etwas Sinnvolles von sich zu geben. Wie ein auf frischer Tat ertappter Kaufhausdieb, der nur eine Kleinigkeit gestohlen hatte, fühlte er sich.

Doch langsam fasste er sich, und seine Neugier wurde geweckt. Also machten sich beide auf den Weg in Richtung Bahnhof.

„Sehen Sie, es wurde - noch vor wenigen Jahren - von einer erneuten Expedition gesprochen. Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist man anscheinend jetzt von deren Sinnlosigkeit überzeugt; von den Kosten einmal abgesehen. Ich jedoch glaube an die Notwendigkeit der Wiederholung.“

Der Professor hielt inne.

„Ja, und warum erzählen Sie mir das alles? Was hat das mit mir zu tun?“ Der Reisende bereute schon, sich auf dieses Gespräch eingelassen zu haben.

„Das Ganze ist ein personelles Problem. Ich war der einzige Überlebende der Expedition - so hieß es offiziell. In Wirklichkeit überlebten noch drei weitere Kollegen. Allerdings ist mit ihnen nicht mehr all zu viel anzufangen. Soviel ich weiß, befinden die sich noch immer in psychiatrischer Obhut. - Und nun zu Ihnen. Was Sie nicht wissen können: es scheiterte ein erneuter Versuch außer an den bekannten Gründen vor allem an der Unmöglichkeit, geeignete Expeditionsteilnehmer zu finden. Jeder Bewerber wird speziellen Tests unterworfen. Niemand bisher bestand auch nur ansatzweise einen solchen Test. Der langen Rede kurzer Sinn: haben Sie Interesse?“

Der Reisende sah den Alten erst verblüfft und misstrauisch an. Aber irgendwie fasste er schließlich Vertrauen. Wieso, das hätte er nicht sagen können. Oder die Neugier bekam die Oberhand.

„Sie haben mich neugierig gemacht. Woher aber weiß ich, dass alles keine Spinnerei ist? Und was meinen Sie mit den ,Tests‘?“

„Kommen Sie mit.“ Der Unbekannte sah den zweifelnden und misstrauischen Blick des Reisenden und beeilte sich hinzuzufügen: „Es dauert nicht lange. Den Zug verpassen Sie wirklich nicht. Und wenn Sie Interesse an meinem Angebot haben sollten, so wird Sie der Zug nicht mehr interessieren. Und Ihr jetziger Job auch nicht mehr.“

Der Reisende überlegte kurz und entschied, über das Angebot des Alten sich auf alle Fälle genauer zu informieren. Er verlangte aber, noch einmal am Bahnhof vorbeizuschauen und sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Dort erfuhr er, dass sich aus für ihn nicht nachvollziehbaren Gründen die Fertigstellung des Gleises um mindestens eine weitere Stunde verschieben würde. Beunruhigt und von fast unerträglicher Neugier getrieben begleitete der Reisende den Professor auf den Weg in sein Haus. Auf diesem Weg fiel kein Wort. Nach wenigen Minuten erreichten beide das Haus, welches sich, unweit des Bahnhofes, in einer ruhigen Seitenstraße des Ortes befand. Der Garten war nicht sonderlich gepflegt, aber auch noch nicht völlig verwildert. Dem Haus selbst hätte eine erneuerte Fassade sicherlich nicht geschadet. Der graue Putz begann stellenweise sich zu lösen

Doch bereits die Diele strafte den ersten Eindruck Lügen. Der Reisende hatte ein Chaos erwartet, wie man es gewöhnlich in der Wohnung eines verschrobenen Einzelgängers (wieso eigentlich vermutete er, dass jener ein Einzelgänger sei?) hätte erwarten müssen. Die gediegene, nicht unbedingt luxuriöse, Einrichtung erweckten die Vorstellung von einem „gutbürgerlichen“ Haushalt, in dem nur noch die freundliche Hausfrau fehlte, die jeden Gast als erstes nach seinen Wünschen fragte.

Eine Hausfrau schien es nicht zu geben. Der Reisende erkundigte sich auch nicht danach, ob der Professor allein lebe oder auch nicht. Er sah sich lediglich - nicht übermäßig neugierig - um und entdeckte gleich links neben der Eingangstür eine in den Keller führende Treppe. An sich ist daran nun absolut nichts verwunderliches; aber dass der Gang durch unsichtbare Lampen taghell erleuchtet war, erschien ihm doch etwas merkwürdig.

„Wir gehen ins Wohnzimmer. Nehmen Sie doch bitte erst einmal platz. Eine Tasse Kaffee kann nicht schaden. Oder haben Sie bereits im Restaurant einen Kaffee getrunken?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand der Professor in Richtung Küche und kam kurz darauf mit einer Kanne Kaffee und zwei Tassen zurück.

Der Reisende sprach noch immer kein Wort. Und klar zu denken, war er auch noch nicht imstande. Nur kurz schaute er auf die Uhr und konstatierte , dass er mindestens noch eineinhalb Stunden Zeit hatte. Jetzt erst antwortete er: „Nein danke, auf Kaffee habe ich wirklich keinen Appetit.“ So etwas wie Misstrauen schien sich seiner zu bemächtigen. Er nahm sich vor - warum hätte er nicht sagen können - in diesem Haus keine Nahrung und auch keine Getränke zu sich zu nehmen. Der Professor jedoch schenkte sich eine Tasse ein und trank das schwarze Zeug, so wie es war, ohne Zucker und Sahne. Er ließ sich Zeit. So schien es dem Reisenden, der langsam ungeduldig wurde und sich vornahm - er sah nochmals auf die Uhr - in spätestens fünf Minuten zu verschwinden, wenn sein Gegenüber nicht endlich zur Sache käme.

„Sie haben recht“, unterbrach der Professor der Gedankengang des Reisenden, gleichzeitig dessen Überlegungen fortsetzend. „Ich möchte Ihre Geduld nicht überstrapazieren.“ Der Reisende sah ihn skeptisch an.

„Das Projekt wurde vor dreißig Jahren ausgeheckt. Das erste Raumschiff mit Annihilationsantrieb sollte gebaut werden. Theoretisch schien dies kein schwerwiegendes Problem zu sein. Die Herstellung und Aufbewahrung von Antiprotonen konnte man bereits als gelöst betrachten, wenngleich der Wirkungsgrad der damaligen Anlagen nicht gerade beeindruckend war. Die auf dem Mond installierte Anlage gewann aus einem gewöhnlichen Fusionsreaktor die Energie, welche man für die Erzeugung größerer Mengen Antiprotonen benötigte...“

Der Reisende begann langsam wirklich die Geduld zu verlieren. Was sollen die alten Geschichten. Das war doch alles bekannt.

Der Professor lenkte ein und setzte seine Erzählung, nach einem kurzen abschätzenden Blick auf seinen Zuhörer fort: „Ja, ja, das ist wirklich nicht neu. Auch die Realisierung des Antriebssystems des Raumschiffes war mehr ein technisches denn wissenschaftliches Problem. Und - es sind heute auf den Tag genau dreißig Jahre her - wurden die Startvorbereitungen abgeschlossen. Ich war damals knapp über vierzig, ein alter Knacker für ein solches Vorhaben. Doch gehörte ich zu den wenigen, welche die Tests - die waren damals noch nicht so ausgeklügelt - völlig ohne Beanstandung absolvieren konnten. Ich komme darauf noch zurück.“

„Und woran ist das Ganze damals denn wirklich gescheitert?“, dies war die erste konkrete Frage des Reisenden, dem es endlich gelungen war, den Faden aufzunehmen. Damit auch wurde er wieder Herr der Situation und fühlte sich nicht mehr als überrumpeltes Opfer, sondern als ebenbürtiger Gesprächspartner.

„Es waren technische Probleme - so hieß es offiziell“.

„So wie Sie es sagen, lagen die Ursachen ganz wo anders.“

„Genau. Und wenn Sie nichts dagegen haben, zeige ich Ihnen die Aufzeichnungen kurz nach dem Start. Kommen Sie bitte mit in mein Labor.“ Beide erhoben sich und begaben sich, der Professor vorangehend, in Richtung Kellertreppe.

Der Reisende zögerte.

„Sie gehen kein Risiko ein. Noch nicht. Auf das Risiko, welches mit den weiteren Schritten leider verbunden ist, mache ich Sie rechtzeitig aufmerksam. Noch können sie jederzeit umkehren.“ War die Antwort des Alten auf dieses Zögern.

Irgendwie hatte der Reisende das Gefühl, die letzte Chance zu verpassen, um ungeschoren aus der ganzen Sache herauszukommen, wobei ihm völlig unklar war, mit welchem Risiko das Ansehen von Aufzeichnungen eigentlich verbunden sein konnte.

„Folgen Sie mir bitte. Die Treppe ist etwas steil, aber hell erleuchtet, wie Sie sicher bereits bemerkt haben. Und was die Aufzeichnung betrifft, so handelt es sich um eine ganz besondere Art der Informationsspeicherung, die Ihnen noch unbekannt sein dürfte. Und das ist äußerst erstaunlich, da selbst die geheimsten Projekte nie so geheim gehalten werden konnten, dass nicht doch irgend etwas durchsickern konnte. Sie werden nicht irgendwie passiv ein Video  oder so etwas ähnliches - konsumieren, sondern aktiv all das erleben, was - ich erlebte. Sie werden in meine Persönlichkeit schlüpfen und sich an alle Dinge ,erinnern‘, die - mir widerfahren sind.“

Der Professor sah den Reisenden abwartend an. Wie würde dieser sich entscheiden. „Das Risiko besteht darin, dass nicht voraussehbar ist, wie Sie auf eine ,Persönlichkeitsintegration‘ reagieren und wie Sie mit ,meinen Erlebnissen‘ fertig werden. Irreversible psychische Schäden sind nicht auszuschließen! Und bedenken Sie: Ich selbst bin der Einzige, der jene Reise halbwegs unbeschadet überstand. Wenn Sie jetzt umkehren, werden Sie alle Risiken umgehen, aber nie erfahren, was es wirklich mit der Angelegenheit auf sich hat. Wenn Sie sich jedoch für das Experiment entscheiden und es geht schief - ich muss gestehen, bisher sind alle Versuche etwas unglücklich verlaufen -, werden Sie von Ihrem Wissen nichts haben.“

Der Zwiespalt wurde unerträglich. Der Reisende zwang sich, klar zu denken. Das, was ihm hier angeboten wurde, war recht ungewöhnlich - zurückhaltend ausgedrückt. Und noch unmenschlicher war die Entscheidung, die von ihm jetzt abverlangt wurde. Er sah sich bereits gefangen; und ihm wurde klar, dass es kein Zurück mehr gab. Er hatte kaum noch die Kontrolle über sich. So muss es einem Suchtkranken wohl ergehen, der zwar weiß, was er nicht darf, aber auch weiß, dass dieses Wissen völlig nutzlos ist.

Der Professor sah ihn - wie es ihm jetzt schien, resigniert - an, dann ging er weiter. „Sie können immer noch umkehren!“ Dies klang fast schon wie eine Aufforderung, eine Aufforderung, die der Reisende nicht mehr in sein Bewusstsein aufnehmen konnte. „Sie sind der Zehnte“, hörte er den Professor, mit einem Anflug von Traurigkeit, sagen. Jetzt war es der Professor, der zögerte. Beide waren bereits im Keller angelangt, der sich als hell und geräumig erwies.

„Nun, wie haben Sie sich entschieden?“ Diese Worte hatten für den Reisenden keinen Sinn mehr. Es gab nichts mehr zu entscheiden. Die Würfel waren gefallen. Und was sollte denn wirklich Schlimmes passieren?!

Vor einer im Umfeld eines normalen Einfamilienhauses recht unwirklich anmutenden Stahltür hielt der Professor inne. „Sobald wir die nachfolgenden Räume betreten haben, können Sie leider nicht mehr umkehren! Und wenn Sie jetzt umkehren - ich hätte volles Verständnis dafür -, dann macht es für Sie keinen Sinn mit irgend jemanden über die Begegnung mit mir und unser Gespräch zu reden. Das sehen Sie sicherlich ein. Die Unterhaltung mit einem vormals prominenten Wissenschaftler, der etwas seltsam geworden sein mag, hat absolut nichts Geheimnisvolles an sich. Spinnereien sind dies , mehr nicht. Und wer die ernst nimmt, der ist selbst daran Schuld.“

Den Schlüssel in der rechten Hand sah er den Fremden fragend an. Dieser atmete tief durch, schloss kurz die Augen, blickte dann den Professor auffordernd an und nickte kaum merklich. Der Alte zögerte noch, öffnete dann langsam und umständlich die Tür.

Der Reisende war auf alles gefasst, nur nicht darauf, anscheinend in ein Krankenhaus geraten zu sein. Irgendwie hatte der Gang und das Inventar etwas vom anheimelnden Ambiente einer Klinik.

„Wir betreuen und versorgen hier einige Opfer der besagten Expedition. Und auch jene Männer, welche den Test nicht bestanden haben, überlassen wir selbstverständlich nicht hilflos ihrem Schicksal. ,Wir‘ das ist ein privates Unternehmen, welches zwar von staatlicher Stelle nicht unmittelbar finanziert wird, das aber von höchster Stelle - inoffiziell und reichlich indirekt, versteht sich - eine Förderung erfährt. Alle Zusammenhänge kenne selbst ich nicht. Ich bin der wissenschaftliche Leiter. Die Öffentlichkeit darf von allem nichts erfahren. Dies wäre politisch nicht zu vertreten.“

Der Reisende lief wie benommen neben dem Professor her. Dieser ging auf die erste Tür zu und öffnete sie. Für ein Klinikzimmer machte der Raum, obschon nicht sonderlich groß, einen recht gemütlichen Eindruck. Die beiden Patienten saßen an einem kleinen Tisch und waren mit dem Abendessen beschäftigt. Einen sehr pflegebedürftigen Eindruck schienen sie nicht zu machen. Erst bei genauerem Hinsehen fiel auf, dass ihre Bewegungen irgendwie gekünstelt und unecht oder automatenhaft wirkten.

„Dies sind die ersten beiden, die den Test vor etwa zwei Jahren nicht bestanden haben. Die leben in einer anderen Welt. Ihre jetzige Umgebung nehmen sie nicht mehr bewusst wahr.“ Dies war der Kommentar des Professors. „Die ehemaligen Expeditionsteilnehmer sind etwas gebrechlicher und pflegebedürftiger und befinden sich in einer anderen Abteilung.“

„Gibt es hier kein Pflegepersonal?“

„Natürlich, aber es hält sich momentan im Hintergrund. Sehr zuverlässige und sehr verschwiegene Leute. Es hätte jetzt auch keinen Zweck, wenn Sie versuchen wollten, zu fliehen.“

Nacheinander warfen sie einen Blick in fünf Zimmer. Überall fast das gleiche Bild. Im letzten Raum allerdings hielt sich nur eine Person auf. Dem Reisenden wurde etwas übel.

„Und nun zu Ihnen. Ich habe Sie gewarnt.“ Der Professor schloss die fünfte Tür. „Sind Sie bereit?“ Diese Frage hatte keinen wirklichen Sinn. „Bereit“ war er schon. Er hatte keine Wahl mehr. Das Bild des einsamen Mannes am Tisch des fünften Zimmers prägte sich ihm ein.

„Was die nächsten Aktivitäten betrifft, so werde ich Ihnen nichts weiter erläutern. Sie werden alles selbst erleben. Und dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir unterhalten uns in etwa einer Stunde über die nächsten Schritte, oder...“. Der Professor drehte sich zu der gerade geschlossenen Tür um. „Bitte den Gang rechts. Dort kommen wir zum Labor. Und noch etwas: sollte auch dieser zehnte Versuch sich als Flop erweisen, dann geben wir auf. Der Opfer sind zu viele. Offiziell werden Sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen sein. Sie haben doch Ihre Papiere bei sich.“

Im Labor angekommen setzt sich der Fremde auf den Stuhl vor ein Gerät, welches sich äußerlich kaum von einem gewöhnlichen PC unterscheidet. Dann wird das Licht gelöscht. Die Erinnerung an die neun Männer mit den ausdruckslosen Gesichtern sind das einzige, was von seiner Persönlichkeit noch übrigbleibt. Daraufhin wird er in das geheimste und brisanteste Unternehmen aller Zeiten eingeweiht. Mit Raumfahrt hat dies nichts zu tun. Das ursprüngliche Raumfahrtprojekt, obschon der Ausgangspunkt, geriet gänzlich in den Hintergrund. Es ging um völlig andere Dinge...

***

Nach dem Tod des Professors wurden die zehn Versuchsopfer in verschiedene psychiatrische Kliniken verlegt. Das Labor im Keller gibt es schon lange nicht mehr. Das Projekt brach man ab, da es niemand mehr hätte fortführen können. Weitere Versuche wären nur noch als verantwortungslos zu bezeichnen gewesen. Alle Akten hatte der Professor zu Lebzeiten schon selbst vernichtet. Nach dessen Tod übernahm eine Gruppe von Spezialisten irgendeiner ganz wichtigen und ganz geheimen staatlichen Behörde die Beseitigung aller sonstigen Spuren. So kam es, dass eines der geheimsten Forschungsvorhaben abgebrochen wurde, nachdem auch die letzten wenigen wirklich informierten Personen fast alle das zeitliche gesegnet hatten. Veröffentlichungen in der Fachpresse hatte es nie gegeben. Bemerkenswert war die absolute Geheimhaltung. Irgendwie ging es um Versuche, die sich mit dem menschlichen Bewusstsein befassten und damit, wie die Informationsverarbeitung im Zentralnervensystem erfolgt. Nicht einmal die Manipulation von Menschen stand dabei im Vordergrund, sondern die Erkenntnis war das Ziel. Und diesem Ziel war man bereits recht nahe gekommen. Doch irgendwie stieß man auf nicht überschreitbare Grenzen und brach alle Versuche ab.

Und irgendwie war es wohl besser so.

Die Gefahr, dass andere Wissenschaftler sich dem Geheimnis werden nähern können, wurde als gering eingeschätzt. „Die Untersuchung biologischer informationsverarbeitender Systeme“ fand nie wieder den richtigen Anschluss. Die offizielle Wissenschaft  das wussten die damaligen Eingeweihten mit absoluter Sicherheit - war auf dem völlig falschen Weg. Zum Glück aber auch, wie man meinte.

In dem kleinen Städtchen hat sich seitdem nur wenig verändert. Auch die Eckkneipe in der Bahnhofstraße gibt es noch. Der alte Wirt hat die Geschäfte an seinen Sohn übergeben. Die Stammgäste sind fast alle noch die alten. Nur wenige von den älteren fehlen. Zu diesen fehlenden Gästen gehört der Professor. In dessen Haus ist seit kurzem ein pensionierter Beamter eingezogen. Ein hohes Tier beim Geheimdienst soll der gewesen sein. So wird gemunkelt. Nichts genaues weiß man nicht. Das Haus ist kaum wiederzuerkennen. Es wurde gründlich renoviert.

Fremde verirren sich so gut wie nie hierher. In der Kneipe hat man seit einem Jahr keinen Fremden mehr gesehen. Der Ex-Geheimdienstler ist ein unauffälliger und noch nicht besonders alter Mann. Warum allerdings eine ehemaliger höherer Beamter sich in dieses Nest zurückgezogen hat, ist nicht besonders leicht zu verstehen. Und er verreist nie. Bisher jedenfalls nicht. Allein scheint er außerdem zu sein. Gäste hat er noch nie empfangen. Kein Vergleich mit dem ziemlich regen Treiben, als der Professor noch lebte. Kaum ein Tag verging, an dem nicht irgendein Besuch auftauchte. Manchmal mehrere Personen. Sogar nachts, so wussten die Nachbarn zu berichten, gingen viele Leute aus und ein. Man gab sich Mühe, nicht aufzufallen. Diese Mühe fiel auf.

Auch an diesem Abend überfliegt der Pensionär in der Gaststätte seine Zeitung. Wie immer. Die üblichen Meldungen. Wie jeden Tag. Nur eine nicht besonders auffällige Notiz scheint er aufmerksamer zu lesen. Über einen sensationellen wissenschaftlichen Erfolg wird berichtet. Einer Gruppe von Wissenschaftlern in Amerika - wo sonst! - angeblich sei es gelungen, dem Geheimnis des menschlichen Denkens auf die Schliche gekommen zu sein. Die „Seele zu entschlüsseln“ wird bald im Bereich des Möglichen liegen. Der Mann blickt in Richtung Tresen und rafft sich zu einem spöttischen Grinsen auf. Die einzige sichtbare Gefühlsregung seit Tagen. Sein Blick trifft den des Kellners. Der hat verstanden und bringt noch ein Bier.

Doch dann öffnet sich die Tür, und ein Fremder betritt das Lokal. Der blickt sich suchend um und steuert auf einen freien Tisch zu. Nur kurzes Interesse weckt er bei den Anwesenden. Die sind bald wieder mit sich selbst beschäftigt und diskutieren laut oder trinken in Ruhe ihr Bier. Der Pensionär scheint kurz nachzudenken. Dann steht er auf und begibt sich an den Nachbartisch, an dem der Fremde sitzt. Nach kurzem Wortwechsel setzt er sich zu dem Reisenden, den es durch einen Zwangsaufenthalt in diese Kneipe verschlagen hat. Mit der Bahn hat es irgendwie zu tun. Seltsamerweise sind der ehemalige Geheimdienstler und der Fremde nach kurzer Zeit in ein Gespräch vertieft. Die zunächst abweisende Haltung des Reisenden beginnt anscheinend großem Interesse zu weichen. Kein Mensch nimmt von beiden Notiz. Auch dass kurze Zeit später - der Fremde hat gerade seine Mahlzeit eingenommen und auch bezahlt - beide gemeinsam die Gaststätte verlassen, scheint niemand zu beachten.

Draußen ist es bereits dunkel geworden. Nach kurzer Zeit erreichen beide das Haus des ehemaligen Beamten. Ob und wann der Fremde das Haus wieder verlassen hat, wurde von keinem beobachtet. Es hatte ja auch kein Mensch gesehen, dass zwei Männer das Grundstück betraten.

Und am nächsten Nachmittag macht der Pensionär ganz allein seinen üblichen Spaziergang, der - wie immer - bei einem Glas Bier in der Kneipe enden wird. Und die Zeitung wird er auch wieder lesen. Und vielleicht werden es auch ein oder zwei Gläschen mehr sein.


 

Erwachen

Eine Minute ist vergangen. Oder zehn. Oder eine Stunde. Oder ein Jahr. Oder ein Jahrtausend. Er weiß es nicht. Das Bewusstsein tritt auf der Stelle. Die Zeit schläft ein und stirbt.

Die Seele entfernt sich aus dem Raum und schwebt im Nichts. Es gibt sie fast nicht mehr. Es gibt ihn nicht mehr. Das Denken ist ohne Zeit nicht möglich. Gefühle schwimmen diffus in der Leere. Selbst die Leere entschwindet.

Langsam erwacht er und stellt fest, dass dies Erwachen nur ein Schein ist, ein kurzes Aufblitzen der Wirklichkeit.

Nein, er stellt dies nicht fest. Er kann nichts feststellen. Aber es ist so.

Millionen Jahre sind vergangen. Oder Milliarden. Oder Millionen von Milliarden. Nichts hat sich verändert. Und nichts ist gescheh'n. Irgendwann wird er erwachen. Wenn dann das Universum noch vorhanden. Oder wenn ein neues entstanden. Vielleicht werden viele Zyklen noch vergeh'n...

Nach und nach gewinnt die Wirklichkeit die Oberhand. Langsam nur, doch endgültig. Das Bewusstsein festigt sich. Es entsteht ein neues. Woher es kommt, er kann es nicht deuten. Die Welt hat sich nicht verändert. So scheint es ihm. Jeglicher Vergleich fehlt. Keine Menschen gibt es. Er weiß nicht, dass es welche gab und was das war. Der "Überlebende" ist er. Ohne Zweck und ohne Ziel. Ohne Vergangenheit, ohne Wissen. Ohne Streben und ohne Zukunft.

Er ist nicht mehr er selbst. Der neue Schöpfungsakt erfasst ihn völlig. Und nichts bringt das Verlorene zurück. Nicht einmal der Gedanke daran, etwas verloren zu haben. Keine Erinnerung an Vergangenes findet Platz in ihm. Er hätte dies nicht überlebt. Hat er überlebt? Ist dies "das Leben nach dem Tode"?

Der Tod... jetzt hat er ihn wieder. Es muss so etwas wie Erinnerung geben. Woher kennt er sonst den Tod. Das Unbewusste wagt sich zaghaft nur hervor.

Es ist eine Geburt.

Das Licht, er nimmt es langsam wahr (welches Licht? Das Wissen um das Licht ist ein Relikt vergangenen Lebens). Verschwommen wird das Sehen (was ist Sehen?) zum Abbild des Wirklichen (was ist die Wirklichkeit?) außerhalb seiner (existierte dort noch etwas?). Die inn're und die äuß're Welt vermag er unvollkommen nur zu trennen (sind sie überhaupt zu trennen?). Mehr und mehr gelingt es ihm (es scheint ihm so). Es dauert lange. Die Zeit noch fehlt (wie kann da etwas "lange dauern"?). Die Bewegungen (was ist Bewegung?) sind unbeholfen, was er nicht weiß. Nicht wissen kann. Es gibt kein Vorbild.

Der Körper ist neu, was man "Körper" hätte nennen können. Und die Seele, was hätte den Namen "Seele" verdient. Nichts hat gemein mit dem Gewesenen. Die Anpassung ist perfekt. Aber sinnlos. Die Bedingungen können lebensfremder nicht sein. Doch was ist Leben? Wie war die alte Welt vergangen, wie ist sie neu erstanden? Er weiß nichts davon. Er wird es nie erfahren.

Er weiß nicht, dass es etwas zu erfahren gäbe.

Das Überlebensprogramm scheint perfekt. Und nach und nach dringen Fetzen seines letzten Ichs an die Oberfläche. Bruchstückhaft, ohne Zusammenhang. Das hatte er vorausgeplant, ohne davon noch zu wissen. Erinnerungen an vergangene Träume sind es. Mehr nicht.

Das Überlebensprogramm ist nicht perfekt. Wie soll es auch. Er wird Millionen Jahre überleben. Oder Milliarden. Oder Millionen von Milliarden. Doch gibt es "Jahre" noch?! Es gibt nichts, was die Bezeichnung "Jahr" verdient. Oder "Sekunde". Oder "Stunde"...

Er wird überleben". Doch wie. Er wird existieren. Doch warum. Er wird keine Fragen finden, ist ein Automat, ein unvollkommener. Diese Unvollkommenheit ist der Preis fürs Überleben. An nichts kann er etwas messen. Wer ist "ER"?

Und die Welt und er verschmelzen wieder.
Zusammen mit den Träumen.
Und so bleibt es.
Bis zum Ende.
Ein neuer Zyklus ist im Gange.
Noch einmal wird er nicht erwachen...


 

Weltuntergang

Unheilpropheten gab es wahrscheinlich vor Jahrtausenden schon. Den "Weltuntergang" hat die Menschheit mehrmals schon "erlebt". Und das Jahr 3000 soll vielleicht "Die Große Wende" bringen. Ob zum Guten oder zum Bösen, das weiß man nicht so ganz genau. Im schlimmsten Fall bleibt alles beim alten. Das Schlimmste ist immer das Beständige. Keine wirkliche Entwicklung, nicht einmal eine handfeste Katastrophe. Und die Sintflut damals hat langfristig auch nicht viel gebracht.

Seit Milliarden von Jahren kreisen die Planeten um die Sonne. Und die Sonne wird noch weitere fünf Milliarden Jahre "leben". Die Menschen wahrscheinlich nicht. Mit Sicherheit wird es den "Weltuntergang" irgendwann einmal geben. In spätestens einigen Milliarden Jahren. Da die Spezies Mensch nicht gerade zu den besonders vorausschauend handelnden Gattungen vernunftbegabter Lebewesen zählt, ist es wenig sinnvoll, über das mögliche maximale Alter der Sonne ein gar zu großes Kopfzerbrechen zu veranstalten. Und irgendwelche andersgearteten Weltuntergangs-Szenarien locken kaum noch einen Hund hinter dem Ofen hervor.

Doch ein besonders liebes Exemplar eines paranoiden Menschleins predigt seit geraumer Zeit - und es findet wirklich etliche Seelen der schlichteren Art, die ihm aufmerksam zuhören -, dass die Verdammnis bald über uns hereinbrechen werde. Oder eine neue Sintflut vielleicht. Oder etwas in der Art. So konkret pflegt dieser Mensch sich nicht auszudrücken. Jedenfalls werden wir das Ende "bald" erleben. In 1000 Jahren ungefähr.

"Erleben" ist nicht ganz der richtige Ausdruck dafür. Wir werden eben bald nichts mehr erleben können, weil es bald nichts mehr zu erleben gibt, weil es uns bald nicht mehr geben wird.

Gar so dumm ist die ganze Angelegenheit nun auch wieder nicht. Allerdings ist das Aussterben einer biologischen Spezies noch längst kein Welt -Untergang. Aber "Das Große Feuer" werde uns bald alle vernichten. In 1000 Jahren, wohlgemerkt.

Schon möglich. Doch unsere Sonne macht derzeit überhaupt keine Anstalten, sich in absehbarer Zeit in eine Super-Nova zu verwandeln. Und irgendwelche kosmischen Unheilbringer in Gestalt größerer Asteroiden oder kleinerer Planeten oder mittelmäßiger Kometen auf Kollissionskurs mit der Erde sind auch nicht in Sicht. Die atomare Katastrophe ist vielleicht gebannt. Sicher allerdings, so absolut sicher, kann man auch hierbei nicht sein. Es gibt Gefahren. Wir alle haben von ihnen gehört. Nur wirklich bewerten können wir die nicht.

Besagter Prophet versammelt eine immer größere Schar von Jüngern um sich herum, die sich alle dadurch auszeichnen, im Glauben besser zu sein denn im Denken. Das haben Anhänger von Propheten so an sich. Und das muss auch so sein. Sonst ist der Prophet kein solcher oder seine Jünger tragen zu Unrecht diese Bezeichnung.

Und so glauben all die Seelen dieser kleinen Truppe an den Weltuntergang - in zehn Jahrhunderten. Wie schon gesagt, konkret fest legt man sich nicht. Nur der Termin steht so gut wie fest. Das Jahr 3000 hat es ihnen angetan. Bis dahin ist noch reichlich Zeit. Es hätte auch 3032 sein können. Ist es aber nicht. Punkt 3000 werde das Unheil über uns alle hereinbrechen. Verdient haben wir es allemal.

Ist natürlich auch Quatsch. So wie die Todesstrafe eigentlich keine Strafe ist. Die Strafe ist das Vorher. Auf die Angst vorher kommt es an. Und die ist groß. Hinterher ist alles vorbei. Das Leben ohnehin irgendwann einmal. Das weiß jeder. Nur den Zeitpunkt, den kennt er nicht. Und jetzt ist klar, was den Schrecken ausmacht: die Kenntnis des Termins. Oder die Ungewissheit im Gewissen. In beiden Fällen. Nur ist der Todeskanditat mit sich und seinen Sünden und seiner Angst allein. Der Weltuntergang betrifft uns alle. Der kollektive Tod ist irgendwie anders als der individuelle Tod es sein kann.

Aber wenn noch 1000 Jahre Zeit ist...

Nur die Auserwählten wissen ihr Wissen zu schätzen. Die anderen lachen bloß. Oder auch nicht. Dann sind sie nachdenklich geworden. Nicht etwa, weil sie von den Spinnern gehört haben oder ihnen gar glauben, sondern weil Nachdenklichkeit eine durch und durch schlechte Angelegenheit nun auch wieder nicht ist. Die Sache allerdings hat einen Haken: nachdenken kann jeder nur für sich allein. Und bei jedem kommt etwas anderes heraus dabei und somit in der Summe fast überhaupt nichts. Das erleben wir täglich. Doch gibt es Menschen, die werden für das Nachdenken bezahlt. Das macht natürlich dann nur Sinn, wenn das, worüber sie nachgedacht haben, auch verkündet wird. Geschieht dies laut, so hat man es in der Regel mit Politikern zu tun. Und in der Regel wird es bei denen nicht nur bei den Gedanken bleiben, sondern Grundlage für das Handeln soll es werden, was die Angelegenheit auch nicht gerade erfreulicher macht. Doch die Politiker reden äußerst selten über den Weltuntergang. Das ist nicht opportun.

Ein wenig leiser denken Leute nach, die viel wissen und neues Wissen schaffen. Darum werden sie auch "Wissen-Schaftler" genannt. Diese wissen nun, was möglich ist und was nicht. Und der Weltuntergang liegt - wenn nichts dazwischen kommt - in sehr weiter Ferne. Das wissen die. Und sie können das auch begründen, so wie sie den Weltanfang begründen können. Und alle Probleme, die irgendwann zu irgendwelchen Schwierigkeiten führen werden, oder schon geführt haben, sind von uns selbst gemacht.

Und dann gibt es noch die ganz normalen Menschen, welche die Wahl haben, diesen oder jenen Leuten zu glauben. Sei es den Weltuntergangs -Propheten, den Politikern oder den Wissenschaftlern. Natürlich hat man zudem die Freiheit, an nichts zu glauben, oder daran nur, was man selbst so ausgeheckt hat. Und findet man für das, was man sich ausgedacht hat Zuhörer, so ist man Prophet, Politiker oder Wissenschaftler. Je nach dem. Oder Künstler. Den hätten wir fast vergessen. Im einzelnen hängt dies vom konkreten Verlauf der konkreten Karriere ab. Allerdings können wir im allgemeinen davon ausgehen, dass der Otto Normal-Nachdenker, so er denn überhaupt nachdenkt, meist nur auf privater Ebene Nachdenker bleibt. Darum bildet er auch keine übermäßig große unmittelbare Gefahr. Von jener Gefahr einmal abgesehen, die mit seiner bloßen Existenz einhergeht, weil ohne seine Existenz keine Propheten usw. etwas aus- und Unheil anrichten könnten.

Unser großes Plus ist, dass wir nachdenken können. Nicht alles ist richtig und das meiste zwar falsch. Das macht aber nichts. Es merkt eh keiner. Und die wenigen, die es vorher merken, haben sowieso keine Stimme. Und danach, wenn alle es merken, ist es meist zu spät. Da es aber nie völlig zu spät ist, hat man die Möglichkeit, aus Fehlern zu lernen, um Raum zu schaffen für neue. Und so entwickelt sich das menschliche Leben von Niederlage zu Niederlage so vor sich hin.

Und die "absolute Niederlage" ist der "absolute Untergang".

Im Jahr 3000, wie wir jetzt wissen.

Und der Prophet weiß alles ganz genau. Und zwar vorher. Und da er ein harmloser Prophet ist, ein Spinner eben bloß, der ein paar andere nicht besonders helle Köpfchen um sich herum versammelt hat, lässt man ihn gewähren. Den Unsinn, den er da verzapft, den kann man wirklich nicht ernsthaft ernst nehmen.

Und so nähert man sich eines Abends unversehens dem ominösen Jahr 3000. Auch eine Raumschiffbesatzung ist unterwegs. Man will sich etwas weiter hinauswagen. Weiter als bisher. Und Silvester feiert man in der Raumkapsel. Dreißig Männer also feiern den Jahrtausendwechsel. Und der blaue Planet strahlt in voller Pracht. Und die Stimmung könnte besser nicht sein.

Der Fernsehkontakt mit der Bodenstation reißt plötzlich ab. Man will sich gerade gegenseitig beglückwünschen. Zum neuen Jahrtausend. Schon beginnen die Männer über die scheiß Technik zu fluchen, als sie bemerken, dass die Erde nicht mehr zu sehen ist. Die ist verschwunden. Einfach weg. Einfach so.

Alle Versuche, den Funkkontakt wieder herzustellen scheitern. Sie haben das Ende erlebt. Ein Welt-Untergang ist es freilich nicht, aber das Ende der Erde war gekommen. Ein eigenartiges Ende. So als hätte jemand einen Schalter betätigt und das Licht ausgeschaltet.

Die Sonne ist noch da. Doch beruhigt das die Männer keineswegs. Und so machen sie sich auf die Suche nach der Erde. Aber keine Spur von ihr. Hätte es eine wirkliche sichtbare Katastrophe gegeben, so hätten sie sich etwas denken können. Jetzt aber haben sie rein gar nichts begriffen, und sie glauben immer noch an eine technische Störung oder sonstige Täuschung. Sie haben wirklich nichts begriffen, nicht einmal ihr eigenes Todesurteil.

Das überaus interessante an der Sache allerdings ist, dass der spinnige Unheilsprophet, 1000 Jahre zuvor, recht behielt. Nicht etwa, weil er wirklich wusste, was geschehen würde, sondern weil irgendwann einmal ein Unheilsprophet einen Treffer landen muss. Propheten gab es zu allen Zeiten. Und irgendwann beginnt auch der Untergang. Und dass es das schöne Jahr 3000 gewesen ist, kann wirklich nur ein Zufall sein. Und was sich tatsächlich ereignete, weiß kein Mensch.
Weil es keinen mehr gibt.
Die Raumschiffbesatzung ausgenommen. Und die dreißig Männer haben nie etwas von dem vor 1000 Jahren lebenden Propheten gehört, der fast genau das prophezeite, was jetzt eingetreten war.

Kein Mensch hatte somit einen Nutzen davon, dass es jemanden gab, der auf das gerade eingetretene Ereignis vorbereitet war. Der Prophet selbst nebst kleiner Anhängerschar hatte keinen Nutzen davon. Die waren alle längst schon tot. Und der Menschheit nützte das sowieso nichts, denn erstens erinnerte sich vor dem Untergang kein Mensch an irgendeinen Propheten von vor 1000 Jahren, und zweitens hätte diesen Propheten kein Mensch ernst genommen, und drittens, wenn man ihn ernst genommen hätte, wäre man nicht in der Lage gewesen, das Unheil abzuwenden.

Nichts Nutzloseres also gibt es als Propheten, die alles vorher gewusst haben wollen!

Die Raumschiffbesatzung weiß nichts von alledem. Bis zu ihrem Ende versuchen sie die Erde zu finden oder wenigstens den Funkkontakt wieder aufzunehmen. Danach ist alles vorbei. Für alle Menschen jedenfalls.

Nun, alles war damit nicht zu Ende.

Und - genau genommen - war eigentlich so gut wie fast überhaupt nichts Nennenswertes passiert.


 

Am Grab

Meine Tage sind gezählt. Das weiß ich. Die Krankheit lässt sich nicht aufhalten. Der Verfall schreitet fort. Die Füße sind bereits abgestorben. Schon kann ich die Hände nur mit Mühe noch bewegen. Und die Ärzte sind ratlos. Und ich warte. Lange muss ich nicht mehr warten. Wie lange genau, das weiß ich nicht. Das Atmen wird langsam zur Qual. Ich werde bald künstlich beatmet werden müssen. Ich weiß wie das funktioniert. Auf einer Intensivstation habe ich das bereits einmal beobachten können. Der Patient dort war ohne Bewusstsein. Ich indes nehme alles wahr.

Ich bin noch ich.
Noch!
Mit Träumen, Gefühlen und Vorstellungen. Ich bin ein lebendiger Mensch mit Schmerzen und Ängsten.

Mit Hoffnung längst nicht mehr.

Wie lange noch, das kann ich nicht sagen. Fast bin ich bereits blind. Auch die Geräusche und die Stimmen werden immer leiser. Sprechen kann ich seit Tagen überhaupt nicht mehr. Bald werde ich es hinter mich gebracht haben. Warum hilft man mir nicht?! Und ich bräuchte doch dringend Hilfe! Warum begreift denn keiner, dass ich Hilfe brauche?!

Und es gibt nur eine einzige Möglichkeit, mir wirklich zu helfen...

***

Die Helligkeit blendet mich sehr. Auch wenn ich die Augen schließe. Ich kann dem Licht nicht entrinnen. Ganz langsam nur gewöhne ich mich daran. Alles um mich herum ist still. Es ist wirklich still. Ich weiß, dass es still ist. Weil ich wieder hören kann. Nur ein leises Rauschen höre ich. Und ein leises Zirpen. Unwirklich langsam um mich herum bewegen sich die Menschen. Ich kann keine Gesichter erkennen. Ich weiß auch nicht, ob ich mich selbst wieder bewegen kann. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich bin mir sicher, dass ich fast wieder richtig denken kann. Ich hatte es schon verlernt. Glaube ich.

Es ist so warm. Oder ist es in Wahrheit kalt? Schon eigenartig, wenn man sich so hilflos liegen sieht. Es hat keinen Zweck mehr, sich zu wehren. Und eigentlich wehre ich mich schon lange nicht mehr. Ich werde nicht völlig verschwinden. Irgend etwas wird übrigbleiben. Nicht viel, ein bisschen bloß. Ich werde nicht gänzlich untergehen im Nichts. Irgend etwas bleibt haften. Nur weiß ich überhaupt nicht wann und wo und wie. Es bleibt ein kleines Stück von mir am Leben. Auch dann, wenn ich gestorben bin.

Ich glaube, jetzt es ist so weit. Die Gestalten machen sich an meinem Bett zu schaffen.
Das also war's!
Völlig undramatisch. Das berührt mich überhaupt nicht. Ich bin nur noch reine Information. Ohne körperliches Substrat. Das kann aber nicht sein. Ganz in Ordnung ist das nicht. Ich bin mir sicher, ich irre mich...

***

Ich weiß nicht, was die alle von mir wollen. Wie bin ich nur hierher geraten? Ich finde mich absolut nicht zurecht. Die Leute sind halbwegs freundlich. An ganz wenige Dinge nur kann ich mich erinnern. Ich weiß nicht einmal, wer ich bin. Irgend etwas von Amnesie höre ich. Ist doch Blödsinn. Ich kann denken. Und ich weiß, dass ich eigentlich tot bin. Nun gut, mein Name fällt mir momentan nicht ein. Aber vor kurzem erst bin ich gestorben. Dass weiß ich ganz genau. Ich habe mich ja liegen gesehen.

"Ein äußerst interessanter Fall".

Damit meinen die mich. Es unterhalten sich viele Ärzte mit mir. Ob ich etwas dagegen hätte, wenn man die Gespräche aufzeichnet, hat man mich gefragt. Was soll ich schon dagegen haben. Kann ja doch nichts ändern. Ich bin denen schließlich ausgeliefert. Die müssen ja denken, ich begreife überhaupt nichts. Natürlich weiß ich, dass etwas nicht in Ordnung ist mit mir. Und dann habe ich ganz seltsame Träume. So komische Fragen stellen die alle. Und viele dieser Fragen kann ich sogar richtig beantworten. Und man wundert sich darüber.

Auch besuchen mich einige Leute. Die sehen mich so eigenartig an. Und ich soll den Mut nicht verlieren. Es wird bestimmt alles wieder gut.

Ich weiß nicht, was die von mir wollen. Ich kenne die doch gar nicht.

Nur schade, dass mich Gerda nicht besucht. Dabei habe ich ihr überhaupt nichts getan. Wir kennen uns schon viele Jahre. Und verheiratet sind wir auch schon lange Zeit. Nicht einmal die Kinder lassen sich blicken. Meine blöde Krankheit hat alles zerstört. Aber vielleicht besuchen sie mich nicht, weil ich ja tot bin. Die müssen doch mein Grab besuchen. Auf einem Friedhof. Igendwo. Natürlich, das ist der Grund für ihr Ausbleiben. Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin...

Am liebsten würde ich die Pillen gar nicht mehr schlucken. Mir ist jedes Mal so dumpf im Kopf danach. Und die Erinnerungen werden viel undeutlicher. Unklarer noch, als sie es ohnedies schon sind. Aber das geht wieder vorüber. Und als ich mich nach vielen Wochen wieder an mich und mein Leben fast ganz deutlich erinnere, wundert man sich noch mehr. Mir fällt auch wieder mein Name ein. Und mein Leben kommt immer klarer in mein Bewusstsein zurück. Ich kann mich sogar an Episoden aus meiner Kindheit erinnern. Wenn ich genau darüber nachdenke, so waren die Erinnerungen nicht wirklich entfallen. Nur vorübergehend etwas in den Hintergrund geraten. Das passiert doch jedem einmal. Die Ärzte werden langsam ziemlich nachdenklich. Und ratlos. Viel ratloser und nachdenklicher noch, als am Anfang. Das bekomme ich mit.

Ob ich mich an meinen Unfall erinnern könne, fragen die mich.

Was für ein Unfall denn? Ich hatte keinen Unfall, sondern ich war krank und bin vor gar nicht allzu langer Zeit gestorben. Vor einem Monat vielleicht. Ganz genau weiß ich das nicht. Und in dieser Klinik kam ich wieder zu mir. Nur, wie ich hierher geraten bin, das ist mir wirklich völlig unklar.

Und was soll der Gips an meinem rechten Bein?!

Wenn ich darüber nachdenke, so richtig nachdenke, kommt mir alles sehr unlogisch vor. Und es dämmert mir, dass es den Ärzten und dem sonstigen Pflegepersonal auch nicht recht geheuer erscheinen muss.

Ich bitte um Schreibutensilien. Ich schreibe alles auf. Das scheint mir wirklich zu helfen. Ich schreibe alles auf, was ich weiß und was mir so einfällt. Dabei verdränge ich meine missliche Lage.

Als eines Tages der Oberarzt kommt, sagt er mir, er möchte mir ein Foto zeigen. Ich soll mich bloß nicht aufregen, sonst müsse man mir wieder die Medikamente verabreichen. Und dann zeigt er mir ein Bild und fragt mich, ob ich die Personen auf Foto wohl kenne.

So eine Frage! Ich sehe keinen Grund zur Aufregung. Ich hatte zwar vorübergehend einige Gedächtnisprobleme, aber so schlimm, wie man hier tut, ist es wirklich nicht. Dass die Ärzte immer übertreiben müssen! Und ich fühle mich schon wesentlich besser.

Als ob ich nicht meine Frau erkennen würde! Und der Mann neben ihr, das bin doch ich!

Der Arzt sagt, ich solle doch in den Spiegel seh'n. Als ich dies mache, fällt mir auf, dass der Mann, der mich aus dem Spiegel anschaut, mit mir gar keine Ähnlichkeit hat. Das irritiert mich sehr; und ich bin überaus verunsichert. Aber der Mann auf dem Bild, das bin ich. Und aus dem Spiegel blickt mich ein fremdes Gesicht an. Das merke ich jetzt erst, nachdem ich das Foto sah. Seltsam, mir war das bisher nicht aufgefallen. Ob das etwa mit meiner Krankheit und meinem Tod zusammenhängt?

Ich grüble lange nach, komme aber zu keinem greifbaren Ergebnis. Alles ist und bleibt unlogisch. Auch die Ärzte können mir nicht helfen. Ob mich denn Gerda nicht doch einmal besuchen wolle, frage ich fast jeden Tag. Man schüttelt nur den Kopf.

Neulich zeigt mir der Professor ein anderes Bild. Darauf sind einige Leute auf einem Friedhof zu sehen. Auch Gerda ist dabei. Und einige andere Trauergäste kann ich sogar beim Namen nennen. Nicht alle, aber viele. Und die Kinder sind ebenfalls zu erkennen. Mich kann ich auf dem Bild nicht entdecken, denn es handelt sich ja um mein Begräbnis. Logisch, dass ich nicht zu sehen bin, ich liege ja im Sarg. Unter der Erde.

Aber wieso lebe ich dann hier in der Klinik? Ich werde immer verwirrter. Die Ärzte auch.

Der Professor sieht mich ungläubig an. Ihm fallen nicht einmal die klugen Worte ein, die eh kein normaler Mensch versteht. Nicht einmal irgendwelches lateinisches Zeug gibt der von sich.

Und an diesem Tag grübele ich bis in die späte Nacht hinein darüber nach, wie es denn möglich sein kann, dass ich einerseits tot bin und andererseits mich in einer psychiatrischen Klinik befinde. Am nächsten Morgen bitte ich um Ausgang. Ich will mein Grab besuchen. Mich soll ruhig ein Pfleger begleiten. Von mir aus auch zwei. Ich würde auch nicht versuchen auszureißen. Und meine Familie zu erschrecken, das liegt mir fern.

Es ist schon beunruhigend, vor seinem eigenen Grab zu stehen. Und ganz gesund war ich wohl auch noch nicht. Vielleicht war es auch viel zu für mich, denn als ich wieder zu mir kam, befand ich mich wieder in der Klinik. Alles aber war verändert. Und ich wusste im Moment nicht, wo ich mich befand. Dann aber erinnerte ich mich an einen Unfall vor Monaten, von dem ich mich bereits fast erholt hatte. Die Bergsteigerei ist nicht ganz ohne Risiko. Eine kleine Unvorsichtigkeit, und schon ist es passiert. Zehn Meter Fall und dann der Aufschlag. Aber ich muss noch Glück gehabt haben. Jedenfalls bin ich so gut wie gesund. Das rechte Bein wird wohl etwas steif bleiben. Mit der Kletterei ist es wahrscheinlich vorbei.

Aber ich bin froh, wieder ich selbst zu sein. Der Schock auf dem Friedhof hatte bestimmt etwas ausgelöst. Ich bin wieder ich. Das stimmt. Aber ich kann mich an ein anderes Leben erinnern, an ein Leben, das mir völlig fremd sein müsste. Das ist schon verwirrend. Aber ich lerne, damit umzugehen . Doch passiert es mir immer wieder, dass ich mitunter einiges durcheinander bringe. Aber ich kann leben damit. Und meine Familie auch.

Doch einen kleinen Tick leiste ich mir. Einmal jede Woche besuche ich das Grab eines fremden Mannes auf dem Friedhof. Und dieser Mann bin ich. Zumindest ein Teil von mir. Langsam verblassen viele "Erinnerungen", aber nicht alle. Ein Rest wird immer bei mir bleiben. Und im Traum erlebe ich Dinge, die ich jetzt ganz anders bewerten kann. Und wenn ich zu diesem Grab gehe, achte ich darauf, dass ich allein bin. Der Familie, der anderen Familie, möchte ich nicht begegnen.

Ich habe nie versucht, mit der fremden Familie in Kontakt zu treten. Ich weiß allerdings nicht, wie ich reagieren würde, liefe mir Gerda über den Weg . Es wäre mir bestimmt nicht gleichgültig. Der Andere ist zwar nicht mehr ständig präsent, aber auch nicht gänzlich verschwunden.

Dann bat ich den Professor um eine Auskunft. Nach einigem Zögern gab er sie mir auch. Zwar kennt man den Zeitpunkt meines Unfalls nicht auf die Minute genau; aber zu welcher Uhrzeit der Andere verstarb, das jedenfalls hatte man herausgefunden. Bei aller Unsicherheit gibt es ein merkwürdiges Zusammentreffen beider Ereignisse.

Immer, wenn ich das Grab des Fremden besuche, kommen mir seltsame Gedanken. Und ich frage mich: Ist der dort, der unter der Erde, denn wirklich tot? Sicher allerdings, so völlig sicher, bin ich mir nicht. Und ich weiß auch nicht, wie die Ärzte das alles bewerten. Mit der wissenschaftlichen Erklärung meines "Falles" haben die etliche Probleme. Ich indes versuche herauszufinden, wer ich eigentlich bin. Vor meinen Unfall hatte ich solche Anwandlungen nicht. Jetzt sehe ich auch den Tod mit ganz anderen Augen. Und wenn ich meine eigenen Niederschriften lese, so wird mir ganz seltsam zumute.

Und die Angst aber, die unbestimmte Angst vor dem Tod jedoch bleibt. Bis dahin ist noch reichlich Zeit. Das jedenfalls hoffe ich.

Das hofft ja jeder.

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